Laut offizieller Statistik leben in Portugal 105.000 Menschen mit brasilianischem Pass. Soweit die Untergrenze. Laut Rosane vom Restaurant “Atira-te ao Rio”, die ja selbst Brasilianerin ist, sind es “sehr viele”. Was machen aber sehr viele Brasilianer, wenn sie ein wenig Heimweh haben? Sie naschen. Wie alle Menschen überall auf der Welt, die sich über die kleinen Speisen ein Stück ihrer Heimat erhalten wollen. Groteskerweise können sie dabei nicht in die “Pastelaria Casa Brasileira” in der Baixa gehen, denn dort gibt es typisch portugiesische Pasteis und Eiergebäcke. Ganz ähnlich geht es ihnen im “Café A Brasileira” in Chiado, einem der wirklich schönen, alteingesessenen Kaffeehäuser. Nein, wer brasilianische “Doces” haben will, geht – zum Chinesen.
Um das zu erklären, muss ich erst ein wenig ausholen: Portugal war über viele Jahrzehnte, ja Jahrhunderte ein typisches Auswanderungsland. Gingen zunächst viele Portugiesen nach Brasilien, später einige auch in die einstigen Kolonien, waren die von Armut geprägten 1960er Jahre von der Arbeitsmigration vor allem nach Frankreich, aber auch nach Spanien oder Deutschland bestimmt. Zwar kamen nach der Unabhängigkeit der Kolonien 1975 vor allem Menschen von den Kapverden und aus Angola nach Portugal, aber das war es dann auch. Ganz ähnlich wie Spanien oder Italien ist Portugal erst seit wenigen Jahren das Ziel einer neuen Zuwanderung geworden. Und genau wie man beispielsweise in Spanien mittlerweile Halal-Metzgereien oder kolumbianische Friseure finden kann, gibt es in Portugal brasilianische Süßigkeiten. Chinesische Einzelhändler waren dabei, so mein bisheriger Eindruck, als erste in der Lage, auf die Bedürfnisse dieser Zuwanderer-Klientel einzugehen, die der “klassische” portugiesische Einzelhandel noch nicht im Blickwinkel hat.
Bei mir um die Ecke am Calvário hat vor ein paar Tagen ein neuer “chinesischer” Supermarkt seine Pforten geöffnet. Die Lage ist hervorragend gewählt, der Calvário ist einer der großen Bus- und Straßenbahn-Umsteigeplätze. Die Regale im Supermarkt sind hingegen noch nicht überwältigend voll, dafür aber unglaublich bunt gemischt. Ganz offensichtlich versuchen die Inhaber peu à peu auszutesten, welche Produkte laufen und welche nicht. Es gibt portugiesischen Wein-Wurst-Butter-Käse, aber auch jeweils ein Rayon “ethnischer” Produkte. Im Afrika-Regal gibt es beispielsweise Palmöl aus Guinea-Bissau und Moamba aus Angola. Ein chinesisches Regal gibt es natürlich auch, dazu noch ein osteuropäisches (viel polnische Wurstwaren und Eingemachtes). Aber nur vor einem Regal bilden sich regelmäßig Menschentrauben. Dort gibt es – Ihr habt es erraten – brasilianische Süßigkeiten.
Dabei muss man zwischen brasilianischen Markenprodukten unterscheiden und “Selbstgemachtem wie in Brasilien”. Zur ersten Kategorie zählen die Produkte des brasilianischen Süßwarenherstellers Garoto. Als “Garoto” wird ein kleiner Junge bezeichnet, ein Bub sozusagen. Die große Garoto-Mischung kann man hingegen auch der Tante als Geschenk mitbringen. In ihr sind all die kleinen und einzeln verpackten (ja ja, Amerika) “Bombons” enthalten, die man in Brasilien an der Kasse kaufen kann. Stellt Euch auf Süße ein, auf Schokolade außen und Erdnuss- oder Cashew- oder Milchcreme innen. Die Qualität ist für Feinschmecker nicht gerade toll, aber die Vielfalt enorm groß, 19 verschiedene Sorten in einer Packung (für Kenner: auf dem Titelfoto fehlt das “It Coco”). Das “produit phare”, wie der Franzose sagen würde, heißt übrigens “Serenata de Amor”.
In der Distribution offenbar viel schlechter aufgestellt ist das Konkurrenzprodukt der Firma “Lacta”, die zum Kraft-Konzern gehört. Zum einen sind die Lacta-Packungen wesentlich seltener, zum anderen auch noch deutlich teurer als diejenigen von Garoto. Zu allem Überfluss ist die Auswahl in der gleich großen Packung viel geringer: nur zwölf verschiedene Sorten. Ich persönlich bin zusätzlich der Meinung, dass sie geschmacklich nicht in Ansätzen mit Garoto mithalten können. Gibt es also einen Grund, die Lacta-Packung zu kaufen? Für mich ja, pseudo-wissenschaftliche Neugier, für Euch eher nein.
Jetzt aber zum zweiten Teil der Brasil-Abteilung, den selbstgemachten Süßigkeiten. Diese Leckereien werden im Supermarkt ebenfalls verpackt angeboten, von ihrer eigentlichen Art her müsste das aber nicht sein. Es handelt sich dabei um eine Auswahl von gut zehn, tja, Doces, wie es sie größenmäßig auch in der portugiesischen Pastelaria geben könnte. Zutaten und Geschmäcker sind allerdings völlig unterschiedlich und von den klimatischen Verhältnissen geprägt. Rohe Eier in tropischen Gegenden sind wahrscheinlich eine ebenso schlechte Idee wie Schokolade. Die Eier verderben, die Schokolade schmilzt. Nüsse jedwelcher Art, auch hier gern Erdnüsse, Cashews oder Kokosnüsse, kombiniert mit Rohrzucker und einer bindenden Milchcreme, das geht schon viel besser.
Mein heutiges Betthupferl, “Cocada Preta”, bestand beispielsweise aus Kokosflocken, Milch und karamelisiertem Zucker. Es schmeckte entsprechend wie eine Mischung aus Kokos-Makronen und Fudge. Genial auch “Canudinho Recheado”, eine Art Eistüte aus Fettgebäck mit Milchcremefüllung. Auf die anderen acht Süßigkeiten dieser Art bin ich auch schon gespannt, zumal keines von ihnen irgendwelche E-Stoffe, Stabilisatoren, Konservierer, Füllsel und sonstigen Schrott enthalten, die in den Riegeln regelmäßig vertreten sind. Mehr als vier Ingredienzen gibt es hier nicht. Und was vielleicht noch spannender ist: Diese Süßigkeiten werden nicht in Brasilien hergestellt, sondern in Almada am südlichen Ufer des Tejo – in einer Privatwohnung, wie es ausschaut. Das könnte doch mal das Ziel einer kleinen Expedition werden…
Und für all diejenigen unter Euch, die hier zunehmend verzweifelt auf Pasteis de Nata, Ovos Moles oder das Pão de Ló gewartet haben, die kleine Serie “Süßes Portugal” ist noch nicht beendet.
Juchu – endlich wieder Süßes! Ich freue mich schon auf einen Pastelaria-Bericht; hier in Hamburg gibt es ja schon verdammt viele und auch gute, aber in Portugal gibt es sicher , ääh, bessere.
Ja, Hamburg ist die beste Stadt in Deutschland für portugiesisches Essen – finde ich jedenfalls. Leider gibt es die Süßigkeiten aus Eidotter vermutlich nur in Portugal. Und selbst hier in Lissabon (Skandal!) habe ich echte Schwierigkeiten, die richtigen “Ovos Moles” zu bekommen. Scheint so, als hätte sich Aveiro das Monopol gesichert, aber ich gebe noch nicht auf…
Sehe ich ähnlich – hier gibt es einfach eine große Exil-Gemeinde, und das schon seit ca. 1600; obwohl die vielen Cafés etc. wohl eher aus der Zeit des Wirtschaftswunders stammen.