Die Chinatown von Paris ist keine schmale Altstadtgasse, die von goldenen Löwenstatuen gesäumt wird. Statt dessen bilden herrliche HLM-Hochhäuser aus der Hochzeit der Betonarchitektur die passende Kulisse für das vielleicht interessanteste asiatische Viertel Europas. Nirgends sonst kann man so unproblematisch authentische Küche aus Vietnam, Laos, Kambodscha und den chinesischen Essregionen bekommen wie hier. Und da es für den Anfang wie üblich am besten ist, sich erst einmal einen Überblick zu verschaffen, bietet sich dafür der größte Esstempel der ganzen Gegend an: das Restaurant “Chinatown Olympiades“.
Die “Olympiades” sind ein knapp zwei Meter hohes Einkaufszentrum im ersten Stock einer Wohnanlage. Von der Straße aus, der Avenue d’Ivry, kann man den Eingang leicht übersehen. Kommt man aus Richtung Rue de Tolbiac wie die meisten anderen auch, geht es hinter der pausenlos von Autos frequentierten Einfahrt zum Supermarkt Tang Frères im nächsten Haus die Rolltreppe hoch. Oben angekommen, wende man sich rechterhand um 180 Grad, und schon geht es hinein in das Restaurant, in dem auch Stars auftreten, Hochzeiten gefeiert werden und jeden Abend Karaoke gesungen wird. Die Spezialität des “Chinatown Olympiades” ist die kantonesische Küche, aber es gibt eigentlich fast alle chinesischen Speisen hier, und wer aus den knapp 1.000 frisch (!) zubereiteten Positionen der Karte nichts Essbares für sich findet, ist selbst Schuld.
Dieses Mal waren wieder drei Quasi-Klassiker dran, von denen ich zwei sehr häufig in den Chinatown-Restaurants wähle, die dritte dagegen nur hier, weil ich sie woanders kaum bekomme. Die erste ist kalter, scharfer Quallensalat (“Salade de Méduse pimentée”), der völlig anders schmeckt, als er sich für Unkundige anhört. Quallen sind nicht schlabbrig, sondern frisch und fischig, eine Texturmischung aus Sojasprossen und Tintenfischringen. Der erste Biss erfordert jedenfalls mehr Mut als der zweite, der wiederum als der dritte, und nach dem vierten meinten alle, mit denen ich das bislang gegessen habe, dass sie diesen Salat das nächste Mal wieder bestellen würden.
Der zweite Teller bestand aus “Liseron d’Eau”, auf Chinesisch “Kong Xin Cài” oder eben “空心菜”. Auf Deutsch heißt dieses Gemüse “Wasserspinat”, und das trifft es leider überhaupt nicht. Es handelt sich nämlich um hohle Stängel wie bei Frühlingszwiebeln, nur knackiger, die mit einer leichten Knoblauch-Chili-Sauce serviert werden. Der Wasserspinat gehört botanisch übrigens zur Familie der Winden.
Der dritte Teller, den ich nur hier bestellen kann, sind frittierte Lotuswurzeln mit einem Häubchen aus Krabbenfleisch. Leider wird dieses fantastische Gericht, das ich wirklich jedem wärmstens ans Herz legen kann, auf der Karte grotesk irreführend beschrieben, und zwar als “Gefülltes Lotus-Rhizom mit Salz und Pfeffer”. Kein Wort von der Knusprigkeit der Lotuswurzel, und erst recht kein Wort von der saftigen Haube aus gebratenem Krabbenfleisch.
Die Tatsache, dass man sich hier in einem sehr guten und beliebten Restaurant befindet, zeigt sich in gewisser Hinsicht auf der Rechnung. Paris ist teuer, das hört man allerorten, und genau das stimmt überhaupt nicht, wenn es sich um eine gewöhnliche vietnamesische Suppe in einem gewöhnlichen Restaurant des 13. Arrondissements handelt. Da wird man nämlich für 6 € mehr als satt. Hier jedoch kostet jeder Teller um die 10 €, was in der Endabrechnung bei zwei Personen schnell mal in Richtung 50 € führen kann. Natürlich ist das gar nichts im Vergleich mit den Touristen-Abfüllern der Innenstadt, ich wollte nur orientierungshalber darauf hingewiesen haben. Mein Fazit für das Restaurant “Chinatown Olympiades” steht nämlich seit ein paar Jahren felsenfest: ein Must für jeden, der gute (südost)chinesische Küche in authentischem Ambiente schätzt.